Gastbeitrag von Philipp von Becker
Ist der Nato-Krieg mit Russland nahezu unausweichlich? Die Politik behauptet dies. Doch das ist reine Ideologie. Ein Gastbeitrag des Protests.
In einem Statement zum Werbedeal von Borussia Dortmund mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am 29. Mai, dass dies „erst mal ,ungewöhnlich‘“ sei, aber zeige, „wo wir stehen“. „Wir wissen und müssen es leider zugeben, dass wir in einer anderen, bedrohlicheren Welt sind“, so Habeck weiter.
Die „eingeübte und so verständliche Zurückhaltung“ beim Sprechen über die Rüstungsindustrie sei „nicht mehr haltbar und auch nicht mehr richtig“. Insofern spiegele das Rheinmetall-Sponsoring „auch ein Stück weit die Realität der Zeitenwende“.
Ein Wesensmerkmal von Ideologie ist es, etwas menschlich Gemachtes als natürlich Gegebenes auszuweisen. Habecks Statement zeigt, dass die „Zeitenwende“ – die nichts anderes als Aufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft meint und damit einen beängstigenden gesellschaftlichen und politischen Rückschritt bedeutet – genau das ist: ein ideologischer Propagandabegriff. Denn obwohl die „Zeitenwende“ freilich keine Naturgewalt, sondern lediglich der Sprechakt eines Bundeskanzlers ist, wird mit ihr Aufrüstung zu einem scheinbaren Zwang, zu einer scheinbar unausweichlichen Realität erklärt. Habeck suggeriert zudem, dass die Bundesregierung die Militarisierung der Gesellschaft zwar gar nicht wolle, aber eben keine andere Wahl habe. Gleich dem ideologischen TINA-Prinzip („There is no alternative“) von Margaret Thatcher und Angela Merkel wird Aufrüstung als alternativlose Tatsache deklariert – der wir uns, ob wir wollen oder nicht, zu unterwerfen haben.
Als ideologischer Propagandabegriff verschleiert die im Bundestag mit Standing Ovations gefeierte „Zeitenwende“ die Realität. Denn zum einen wird suggeriert, dass die Nato ein mittel- und wehrloser Bettel- und Friedensverein sei, der schutzlos ausgeliefert nun endlich dazu gebracht werden müsse, „wehrfähig, wehrbereit und wehrwillig“ zu sein. Es genügt ein Blick auf die Militärausgaben der Nato-Staaten und Russlands vor und seit dem Ukrainekrieg, um festzustellen, dass die Nato-Staaten zusammen mehr als das Zehnfache für Rüstung und Militär ausgeben als Russland: Im Jahr 2020 waren es bei der Nato 1182,9 Milliarden US-Dollar und bei Russland 65,91 Milliarden US-Dollar. 2023 waren es bei der Nato 1304,9 und bei Russland 109 Milliarden US-Dollar. Allein Deutschland und Frankreich oder Großbritannien zusammengenommen geben für Militär deutlich mehr aus als Russland. Selbst unter Beibehaltung des Status quo und unter Annahme der (falschen) Prämisse, dass mehr Rüstung zu mehr Sicherheit (und Frieden) führt, gäbe es also keinerlei Grund für eine Aufstockung des Wehretats.
Und zum anderen wird der scheinbare Zwang zur Aufrüstung mit der Vorstellung begründet, dass Russland die Nato angreifen wolle oder werde. Doch kann man angesichts der Kräfteverhältnisse und der jeweiligen atomaren Zweitschlagskapazität von Nato und Russland ernsthaft glauben, dass Putin dies will beziehungsweise riskieren würde? Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg höchstpersönlich erklärte mehrfach, dass er keine akute militärische Bedrohung durch Russland für die Nato sehe. Und im Gespräch mit ausländischen Nachrichtenagenturen sagte Putin am 6. Juni 2024: „Jemand ist auf die Idee gekommen, Russland wolle die Nato angreifen. Seid ihr völlig verrückt geworden? Seid ihr so dumm? Wer hat sich das ausgedacht? Das ist Unsinn, Schwachsinn.“
Das westliche Aufrüstungsnarrativ ist in jedem Fall paradox
Ja, man muss Putin nicht glauben. Aber ist es in diesem Fall nicht noch verrückter, ihm nicht zu glauben? Das westliche Kriegs- und Aufrüstungsnarrativ ist in jedem Fall paradox: Einerseits wird Putin als böser Wahnsinniger dargestellt, der ganz Europa unterwerfen und angeblich nicht verhandeln will – auch wenn die Verhandlungen in Istanbul und mehrere Äußerungen aus jüngster Zeit das Gegenteil nahelegen. Andererseits muss die „Strategie“ der Eskalation der Lieferung und des Einsatzes von Waffen, die nun auch Ziele in Russland angreifen dürfen sollen, aber darauf basieren, dass Putin kein irrationaler Wahnsinniger ist, der einen atomaren Gegenschlag auf einen Nato-Staat ausführen würde – zumindest falls der Westen keine suizidalen Absichten hat.
Viel wahrscheinlicher ist deshalb, dass die auf weitere Aufrüstung drängenden Falken in den USA und Europa in Wirklichkeit auch nicht an einen russischen Angriff auf die Nato glauben, aber dieses Bedrohungsszenario nach außen vertreten, um Milliarden von Euros und US-Dollar in die Rüstungsindustrie zu pumpen. Oder wie Verteidigungsminister Pistorius jüngst stolz verkündete: „Wir haben 380 Verträge mit amerikanischen Rüstungsunternehmen am Laufen, mit einem Gesamtwert von über 23 Milliarden Euro.“
Und nachdem der ukrainische Präsident Selenskyj am 11. Juni vor dem Deutschen Bundestag erklärte, dass die Ukraine den Krieg zu ihren Bedingungen beenden werde und die „Zeit der Kompromisse“ vorbei sei, wurde am 14. Juni noch deutlicher, dass nicht Putin, sondern die Nato nicht zu Verhandlungen bereit ist: Nato-Generalsekretär Stoltenberg lehnte das Verhandlungsangebot Putins vom selbigen Tag ab.
Auch hier gilt: Natürlich beinhaltet der Friedensvorschlag des russischen Präsidenten Maximalforderungen, und natürlich muss man ihm nicht glauben. Doch Verhandlungen abzulehnen, das Töten fortzusetzen und weiter auf einen militärischen Sieg der Ukraine zu hoffen – der unmöglich scheint, falls die Nato nicht vollends Kriegspartei würde und dadurch eine unabsehbare Eskalation riskierte –, zeugt ebenso von Selbstüberschätzung und reinem Machtkalkül – nicht aber von der gerne vorgeschobenen Moral „westlicher Werte“.
Aufrüstung steigert das Risiko eines Krieges
Und auch für den Fall, dass Putin keinen Nato- oder EU-Staat, aber tatsächlich Moldau oder Georgien angreifen würde – ein derzeit ebenfalls unwahrscheinliches Szenario –, stellt sich die Frage, was hierbei der Nutzen einer weiter aufgerüsteten Bundeswehr und „wehrfähigeren“ deutschen Bevölkerung wäre. Laut Grundgesetz verteidigt die Bundeswehr Deutschland und nicht Moldau oder Georgien. Will man einen Angriff auf Georgien oder Moldau verhindern und den Krieg in der Ukraine beenden, dann gibt es dafür nur einen Weg: Diplomatie, Verhandlungen und möglichst gute Beziehungen zu allen Beteiligten, die darauf abzielen, einen fairen Interessensausgleich zu erreichen.
Will man wirklich Frieden auf dem europäischen Kontinent, dann kann das Ziel nur sein: Verhandlungen, Abrüstung, Rüstungskontrollen, Kooperation und letztlich eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit Russland. Will man wirklich Frieden auf dem europäischen Kontinent, dann ist das die eigentlich alternativlose Politik. Dämonisierung, Konfrontation, Ausgrenzung und Ausschluss sowie eine Aufrüstungsspirale führen nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit. Sie steigern das Risiko von Krieg, statt es zu vermindern.
Waffen und Freiheit
Entgegen dieser Einsicht folgt das bundesdeutsche Establishment jedoch mittlerweile einem Werbespruch der amerikanischen Waffenlobbyorganisation NRA (National Rifle Association): „The only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun“. Wer diese Annahme und Logik infrage stellt, wird als naiver „Lumpenpazifist“, „Putinknecht“ oder „Eskalationsphobiker“ diffamiert. Jahrzehnte einer um Ausgleich und Abrüstung in Europa bemühten deutschen Außenpolitik scheinen von heute auf morgen vergessen zu sein. Liest man Verlautbarungen der Bildungsministerin Stark-Watzinger oder Leitartikel im Spiegel, der FAZ oder Süddeutschen, dann scheint es ein fataler Fehler gewesen zu sein, unsere Kinder zu Friedfertigkeit und nicht zum Dienst an der Waffe erzogen zu haben. Oder wie Justizminister Buschmann den BVB-Rheinmetall-Deal kommentierte: „Jahrelang wurde das Unternehmen verteufelt. Heute wissen wir, dass es die Waffen produziert, mit der Freiheit verteidigt wird.“ Man ist geneigt, übersetzen zu wollen: „Jahrelang habe ich die Schläge meines Vaters verteufelt. Heute weiß ich, es war Liebe.“
Zur Ideologie der Zeitenwende gehört außerdem nicht zuletzt die Tabuisierung der Vorgeschichte des Ukrainekriegs – der mithin spätestens 2014 und nicht am 24. Februar 2022 begann – und dass es bis vor kurzem noch Landesverrat gleichkam, selbigen als Stellvertreterkrieg zu bezeichnen. Man muss nicht Militärhistoriker, Sicherheitsexperte oder Geostratege sein, um zu verstehen, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland das Überschreiten einer roten Linie bedeuten würde. Und obwohl es bereits vor der (von Russland hingenommenen) Nato-Osterweiterung gerade von amerikanischen Politikern und Experten en masse Warnungen vor selbiger gab und insbesondere vor einem Nato-Beitritt der Ukraine gewarnt wurde, hieß es in der Nato-Gipfelerklärung von Bukarest 2008: „Die Nato begrüßt die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine und Georgiens, die dem Bündnis beitreten wollen. Wir kamen heute überein, dass diese Länder Nato-Mitglieder werden.“
Auch hier haben wir es mit einem Paradox respektive fehlgeleiteter Politik zu tun: Das Streben, in die Nato aufgenommen zu werden, um vor einem Krieg mit Russland geschützt zu sein, hat nun genau zu einem ebensolchen geführt.
Man müsste sich mit geopolitischen Interessen befassen
Bemerkenswerterweise und womöglich der Einsicht geschuldet, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann und eine weitere Konfrontation mit Russland auch nicht im Interesse der USA ist, sagte Joe Biden am 4. Juni in einem Interview mit dem Time Magazin, dass die Ukraine nicht Teil der Nato werde. Eine Bedingung des russischen Friedensvorschlags vom 14. Juni scheint damit zumindest von amerikanischer Seite bereits akzeptiert zu sein.
Der deutschen Debatte wäre nun dringend angeraten, aus dem hollywoodesken Gut-Böse-Denken und der für einen Friedensschluss hinderlichen Moralisierung des Konflikts auszubrechen – wie aktuell auch der Harvard-Professor Stephen M. Walt in Foreign Policy schreibt – und sich mehr mit geopolitischen Interessen zu befassen. So lohnt es sich etwa, einen berühmten Vortrag des amerikanischen Geostrategen George Friedman von 2015 anzusehen. Friedman erklärt darin freimütig, dass ein strategisches Interesse der USA immer darin bestanden habe, eine enge Kooperation zwischen „deutschem Kapital und deutscher Technologie“ und dem an Bodenschätzen reichen Russland zu verhindern, da diese Kombination die Weltmachtstellung der USA bedrohen würde. Während die geopolitischen Ziele der USA und Russlands („eine zumindest neutrale Ukraine“) offen auf dem Tisch lägen, sei die entscheidende und offene Frage, was Deutschland wolle und wie sich Deutschland verhalten werde. Mit dem Ukrainekrieg und der Sprengung von Nord Stream 2 ist das Ziel der Antagonisierung von Deutschland und Russland vorerst (erneut) erreicht und Friedmans Frage beantwortet: Die Deutschen ordnen sich, Stand heute, den Amerikanern unter. Wenn der schreckliche Krieg in der Ukraine somit eines lehrt, dann dass wirtschaftliche Kooperation und eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit Russland in deutschem und europäischem Interesse sind – und es hierfür eines souveränen Europas bedarf. In diesem und nur in diesem Sinne mag eine intensivierte Integration europäischer Wehrfähigkeit ein richtiger Schritt in eine friedlichere Zukunft sein. Frieden durch mehr Rüstung schaffen zu wollen, bleibt jedoch ein gefährlicher Irrweg – oder gefährliche Ideologie.
Quelle: Berliner Zeitung, Gastbeitrag am 23. Juni 2024 Link
Philipp von Becker, geboren 1979, lebt als Autor, Filmemacher und Publizist in Berlin. Sein Interesse gilt bedrohlichen Zukunftsentwicklungen. In seinem Buch “Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus” befasst er sich mit den Möglichkeiten der technischen Transformation des Menschen und dem gesellschaftlich-ökonomischen Wandel durch die Digitalisierung. 2018 reiste er für ein Filmprojekt zu gesellschaftlichen Veränderungen durch neue Technologien durch China