Die erneute Bundestagsresolution zur Antisemitismusbekämpfung
Kommentar von Manfred Jeub zur jüngsten Bundestagsresolution “Nie wieder ist jetzt” vom 7.11.2024
“Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.” – Friedrich Nietzsche „Man wird immer zu dem, was man am stärksten bekämpft.“ – Carl Gustav Jung
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Am 17. Mai 2019 beschloss der Deutsche Bundestag einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ (https://dserver.bundestag.de/btd/19/101/1910191.pdf). Darin wurde die BDS-Bewegung als antisemitisch gebrandmarkt und aufgefordert, ihr und allen Unterstützern Räumlichkeiten und Auftrittsmöglichkeiten zu verweigern. Das verwunderte schon deshalb, weil ein Jahr zuvor der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus noch festgestellt hatte, dass BDS in Deutschland eine zu „marginale Rolle“ spiele, um darauf einzugehen – ebd. S. 157. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/expertenkreis-antisemitismus/expertenbericht-antisemitismus-in-deutschland.html) Daher kam schnell der Verdacht auf, dass über die BDS-Ächtung die Unterscheidung von Israelkritik und Antisemitismus verwischt und Kritiker der israelischen Politik getroffen und zum Schweigen gebracht werden sollten.
Alsbald stellte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages fest, dass es sich bei der Verlautbarung rechtlich um keinen „echten“, sondern einen „schlichten“ Parlamentsbeschluss handele: „Er ist nicht auf der Basis einer spezifischen rechtlichen Regelung ergangen und hat daher keine rechtliche Bindungswirkung für andere Staatsorgane. Der Beschluss stellt eine politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte dar.“ Vor Kollisionen mit verfassungsmäßigen Grundrechten wird gewarnt. „Ein Nutzungsausschluss von BDS-nahen Personen oder Gruppen allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen ist daher mit Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbar.“ https://www.bundestag.de/resource/blob/814894/cf6a69d010a1cc9b4a18e5f859a9bd42/WD-3-288-20-pdf-data.pdf
Der BDS-Beschluss wurde allerdings in der Praxis ganz anders aufgefasst und angewandt, zumal sich Kommunen, die bereits mit Verboten arbeiteten, durch ihn explizit bestätigt sehen konnten. Veranstaltungen, die Israels Politik kritisierten, wurden mit Hinweis auf den Bundestagsbeschluss verhindert oder mussten sich ihr Recht gerichtlich einklagen. Es entfaltete sich ein Spitzelwesen, ob dieser Künstler oder jener Kultur-Preisträger, ob ein Journalist oder ein Gastprofessor BDS-Nähe aufweisen könnte.
Hochrangige Juristen äußerten sich auf dem „Verfassungsblog“ entsprechend kritisch, bis dahin, dass sie eine „Aufforderung zum Rechtsbruch“ sahen. https://verfassungsblog.de/aufforderung-zum-rechtsbruch/.
Stiftungen, NGOs, international arbeitende Friedensorganisationen machten auf fatale Folgen aufmerksam: „Wir fürchten eine Pauschalverurteilung unserer palästinensischen Partner, die nun mit Antisemiten gleichgesetzt werden. Der Bundestagsbeschluss stärkt rechte israelische Lobbygruppen, die alles tun werden, uns das Leben schwer zu machen. Wenn am Ende der Spielraum für den Dialog mit zivilgesellschaftlichen Gruppen in Israel, Palästina und Jordanien immer kleiner wird, erweist uns der Bundestag damit einen Bärendienst.“ so Barbara Unmüßig von der Heinrich Böll Stiftung. https://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-bds-resolution-im-bundestag-der-beschluss-geht-zu-weit-a-1268037.html
Führende Nahostexperten deutscher Universitäten meldeten sich mit vehementer Kritik am Bundestagsbeschluss: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-06/israel-boykott-bds-antisemitismus-meinungsfreiheit-bundesregierung/komplettansicht
Die Leiter zahlreicher öffentlicher Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen in Deutschland schlossen sich zur Initiative GG 5.3 zusammen, um unter Berufung auf das Grundgesetz die Freiheit der Kunst und Wissenschaft, der Forschung und Lehre zu verteidigen. „Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt… Wir verteidigen die weltoffene Gesellschaft, die für die Gleichwertigkeit aller Menschen mit den Mitteln des Rechtsstaates und öffentlichen Diskurses streitet sowie Dissens und vielschichtige Solidaritäten zulässt.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Initiative_GG_5.3_Weltoffenheit
240 namhafte israelische und jüdische Wissenschaftler warfen dem Bundestag vor, sich im Kampf gegen BDS instrumentalisieren zu lassen. https://taz.de/Bundestagsbeschluss-zu-Israel-Boykott/!5601030/ , https://de.scribd.com/document/412475185/Call-by-240-Jewish-and-Israeli-scholars-to-German-government-on-BDS-and-Anti-Semitism
Beim Auswärtigen Amt ging ein Brandbrief vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Genf ein, in dem es heißt: „”Wir möchten unsere Sorge zum Ausdruck bringen, dass der Beschluss einen besorgniserregenden Trend setzt, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken.“ https://www.spiegel.de/politik/deutschland/vereinte-nationen-uno-ruegt-antisemitismus-beschluss-des-bundestags-a-1293375.html
2022 endete ein Rechtsstreit um die Verweigerung von städtischen Räumen, den die Stadt München bis zum Bundesverwaltungsgericht getrieben hatte, mit deren Niederlage und der höchstrichterlichen Entscheidung zugunsten der Meinungsfreiheit: https://www.bverwg.de/pm/2022/6 . Kommentar eines Juraprofessors: https://verfassungsblog.de/ein-raum-fur-den-freien-diskurs/
Man sollte meinen, dass diese – hier nur verkürzt dargestellten – Vorgänge und Erfahrungen unseren Volksvertretern eine Lehre gewesen wären, mit Verfassungsgütern künftig sensibler umzugehen.
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Stattdessen kommen dieselben Fraktionen am 7.11.2024 mit einer erneuten Resolution um die Ecke, die den Titel „Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ trägt, dieselbe Problematik in noch verschärfter Weise aufwirft und im Unterschied zu 2019 nun auch mit den Stimmen der AfD verabschiedet wird, die sich mit ihren antimuslimischen Ressentiments und autoritären Tendenzen darin wiederfindet: https://dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf
Als Anfang November der nie in demokratischer Öffentlichkeit diskutierte, sondern im Hinterzimmer von Vertretern der vier Parteien ausgehandelte Text bekannt wurde, waren die unausweichlichen Bedenken auch sofort zu hören.
Der Hauptstadtchef des Deutschlandfunks Stephan Detjen kommentierte “ mit Insiderwissen unter dem Titel „Die Antisemitismus-Resolution des Bundestags ist ein Irrweg“ am 3.November: https://www.deutschlandfunk.de/antisemitismus-resolution-bundestag-israel-meinung-100.html Er berichtete von den diversen Einflussnahmen und stellte fest: „Die Deutsch-Israelische Gesellschaft jubelt, weil Bund und Länder damit auf ein Verständnis deutscher Staatsräson eingeschworen würden, das Staat und Gesellschaft zu bedingungsloser Solidarität mit Israel verpflichtet. Grundlage einer staatlich gelenkten Antisemitismusbekämpfung in Wissenschaft, Kultur und Medien soll die sogenannte IHRA-Definition sein. Sie wird von der israelischen Regierung propagiert, weil sie vor allem dazu dient, Kritik an israelischer Kriegsführung und völkerrechtswidriger Besatzung zu delegitimieren.“ Detjen warnt: „Der Bundestag würde sich mit dieser Resolution nicht mit Israel solidarisieren, sondern nur mit dem Teil des Landes, der durch Netanjahu, Ben Gvir und Smotrich repräsentiert wird.“ In den Schlusssätzen hegte der Journalist am 3.11. noch diese vergebliche Hoffnung: „Im vertraulichen Gespräch geben auch viele Bundestagsabgeordnete zu erkennen, dass sie die Arbeit an dieser Resolution mit schweren Bedenken, teilweise Entsetzen verfolgt haben. Sie müssen jetzt beweisen, dass sie noch frei genug sind, ihre Einwände offen zu artikulieren und dieses von Grund auf missratene Verfahren in eine andere Bahn zu lenken.“
In der FR war ein Interview mit der Publizistin und Nahost-Expertin Kristin Helberg zu lesen, die die zentralen Kritikpunkte Detjens vollauf bestätigte. https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/kristin-helberg-zur-bundestags-resolution-gegen-antisemitismus-mit-dem-tunnelblick-der-staatsraeson-93394449.html Sie charakterisierte die Resolution so: „Durch den Tunnelblick der Staatsräson vermischt sie den Schutz jüdischen Lebens mit der Unterstützung des Staates Israel und seiner Politik.“ Helberg kennt auch die Auswirkungen im Ausland: „Zivilgesellschaftliche Gruppen in Israel fühlen sich von Deutschlands Haltung inzwischen verraten, denn sie könnten unter Verweis auf die Resolution die Unterstützung deutscher Partnerorganisationen verlieren.“ Innerdeutsch: „Diese Abgeordneten ignorieren die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland, die zu schützen sie vorgeben.“ (…) Die geplante Resolution überträgt die Antisemitismusproblematik auf andere und übernimmt rechte Narrative, indem sie behauptet, Antisemitismus würde durch muslimische Einwanderer „importiert“. Als ob Deutschland ein Land wäre, in das man Antisemitismus importieren müsste, nachdem es antisemitische Verschwörungsnarrative in alle Welt exportiert hat. Diese Ethnisierung des Antisemitismus weisen Experten zurück.“ Helberg resümiert: „Da die vorliegende Resolution für den Kampf gegen Antisemitismus autoritäre Methoden und einen staatlich verordneten Bekenntniszwang ins Spiel bringt, gefährdet sie in ihrer jetzigen Form nicht nur in Deutschland lebende Juden und Muslime, sondern die Demokratie insgesamt.“
Ebenfalls im Vorfeld der Bundestagsabstimmung mischte sich eine verdiente Altpolitikerin in den Diskurs ein, Herta Däubler-Gmelin, langjährige Bundestagsabgeordnete der SPD, Justizministerin, Jura-Professorin. Auch sie suchte im Vorfeld zu warnen und äußerte sich unter dem Titel „Wichtiges Thema, falscher Weg. Der Bundestag will einen Beschluss gegen Antisemitismus fassen – doch die dringend nötige öffentliche Debatte bleibt aus.“ https://www.ipg-journal.de/rubriken/demokratie-und-gesellschaft/artikel/auf-dem-falschen-weg-7893/ Ein Auszug aus ihrem lesenswerten Beitrag:
„… das Kernanliegen des Antrags, der Schutz jüdischen Lebens und der zentrale Einsatz gegen Antisemitismus in Deutschland… Das zu sichern, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die alle demokratischen Kräfte unterstützen sollten. Im Hinblick auf die Bedeutung dieses Anliegens – und hier beginnt meine Kritik – hätte der geplante Antrag von Anfang an veröffentlicht und die Diskussion von Anfang an öffentlich geführt werden müssen. Wer Vertrauen fördern will, muss gerade in Zeiten wie diesen eine offene und faire Auseinandersetzung suchen und fördern. Es darf auch nicht geduldet werden, dass im Zuge einseitiger Stellungnahmen ganze Gruppen von Einwanderern in eine falsche Ecke gestellt werden. (…) Diametral falsch indes ist das bisherige Vorgehen, das in dieser Woche wohl durch einen Bundestagsbeschluss bekräftigt werden soll. Wer meint, mit einer nur kleinsten abgehobenen Zirkeln bekannten Festlegung durch einen Bundestagsbeschluss Verhalten und Meinung regulieren, ja mit finanziellen Sanktionen die Zivilgesellschaft disziplinieren zu sollen oder auch nur zu können, der tut das Gegenteil. Der sät Wind und wird – wieder einmal – Sturm ernten. Zum Nachteil aller, auch der Wissenschaftsfreiheit und den Teilen der Zivilgesellschaft, die sich für das Ende des Leidens und für eine friedliche Zukunft im Nahen Osten einsetzen.“
Mit der Bundestagsresolution „Nie wieder ist jetzt“ sollen jetzt weitere Schritte erfolgen
- die unwissenschaftliche und tendenziöse IHRA-Definition auf den verschiedensten administrativen Ebenen als maßgeblich durchzudrücken
- Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen und aus dem Diskurs auszuschalten
- illiberale Maßnahmen der Meinungskontrolle einzuführen
- Muslime, insbesondere arabischstämmige Migranten, als besondere antisemitische Gefahr zu markieren
- bei der so definierten „Antisemitismusbekämpfung“ zunehmend auf repressive Maßnahmen zu setzen
- und damit in toto demokratische Freiheiten einzuschränken und die Offene Gesellschaft zu gefährden.
Es ist heute viel von der Verteidigung der Demokratie die Rede. Wer tut das? Diejenigen, die solche Beschlüsse fassen, oder diejenigen, die sich solchen Übergriffen entgegenstellen? Das ist die Frage!
Nachbemerkung:
Ich habe mich gefragt, was diejenigen, die vor einem Jahr bei uns die Parole. „Nie wieder ist jetzt“ ausgaben, wohl darüber gewusst haben, welche Vorgeschichte dieses spezielle „Nie wieder“ hat. Ob sie gewusst haben, dass Meir Kahane, der Begründer der Jewish Defense League, diesen Slogan mit seinem Buchtitel „Never again!“ kreiert hat und er seither die Devise der israelischen Rechtsradikalen ist. Wenn jetzt ein Bundestagsbeschluss sie verwendet, frage ich mich doch, wie das gemeint ist.