Rücklicht der Welt

Dokumentation

Die Haltung der Evangelischen Kirche im Vergleich zu über 30 deutschen Menschenrechtsorganisationen

Anfang Oktober 2024 kamen zwei bemerkenswert unterschiedliche Erklärungen zum Kriegsgeschehen in Nahost heraus: Die eine trug den Titel „Stellungnahme der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Jahrestag des 7. Oktobers“, die andere war der Demonstrationsaufruf „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel – Zivilbevölkerung schützen, Waffenexporte stoppen!“, auf den sich mehr als 30 zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland verständigt hatten. Eine vergleichende Lektüre ist aufschlussreich. Verlinkt ist darunter ein Offener Brief des FFE-Leitungskreis-Mitglieds Manfred Jeub an die Leitung der westfälischen Landeskirche.

Text A

Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel

Zivilbevölkerung schützen, Waffenexporte stoppen!

Wir erleben eine erschütternde Eskalation an Gewalt und Leid in Palästina und Israel. Im aktuellen Krieg sind seit dem 7. Oktober 2023 bereits über 41.000 Menschen in Palästina und über 1.200 Menschen in Israel getötet worden. Etwa 100 Geiseln befinden sich noch immer in Gaza. Mindestens 95.000 Palästinenser:innen wurden verwundet und Unzählige werden vermisst. Nahezu die gesamte Bevölkerung Gazas, 1,9 der 2,1 Millionen Bewohner:innen, wurde bereits mehrfach innerhalb ihres Landes vertrieben. Etwa 100.000 Israelis sind seit letztem Oktober evakuiert. Es gibt keinen sicheren Ort im gesamten Gazastreifen. Das bewusste Vorenthalten von humanitärer Hilfe, von Nahrungsmitteln, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung durch Israel bedroht akut das Leben Hunderttausender in Gaza. Und im Westjordanland sind die Menschen mehr denn je schutzlos der Gewalt von Armee und Siedler:innen ausgesetzt.

Zu all dem wollen und können wir nicht schweigen. Wir verurteilen alle Kriegsverbrechen in diesem Krieg, sowohl die der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen, als auch die der israelischen Regierung. Wir trauern um alle Opfer der Gewalt in Palästina und Israel. Wir bangen um die Tausenden, die in Israel willkürlich in Haft und oft Folter und Misshandlung ausgesetzt sind. Wir bangen um diejenigen, die als Geiseln nach Gaza verschleppt wurden. Wir solidarisieren uns mit allen, die sich für Frieden und gleiche Rechte für alle Menschen in der Region einsetzen.

Während die deutsche Regierung zu Recht die Kriegsverbrechen der Hamas verurteilt, benennt sie die Kriegsverbrechen der israelischen Regierung und der Armee noch nicht einmal als solche. Mehr noch, durch ihr politisches Handeln billigt sie die völkerrechtswidrigen Handlungen Israels in Gaza. Die Bundesregierung schwächt die internationale Gerichtsbarkeit durch einseitige Parteinahme.

In Deutschland erleben wir im Kontext der Palästina-Solidarität massive Eingriffe in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Wir stellen uns klar gegen die Kriminalisierung von egitimen Protesten und tragen unsere Kritik am Krieg in Gaza und der Rolle der deutschen Regierung auch selbst auf die Straße.

Wir gehen auf die Straße, um deutlich zu machen: Eine Staatsräson, die bei den Menschenrechten und dem Völkerrecht doppelte Standards anlegt, nützt niemandem und trägt – den wiederholt vorgetragenen politischen Erklärungen zum Trotz – auch nicht zur Sicherheit Israels bei. Menschenrechte und Völkerrecht sind universell. Menschenleben dürfen nicht mit zweierlei Maß gemessen werden: Palästinensisches Leben ist genauso kostbar wie israelisches Leben.

Wir fordern von der Bundesregierung:

• Setzen Sie sich mit allen Mitteln für einen sofortigen und umfassenden Waffenstillstand ein. Nur ein Waffenstillstand schafft die Bedingungen für ein Ende des Tötens und für die Freilassung der Geiseln und unrechtmäßig Inhaftierten.

• Liefern Sie keine Rüstungsgüter an Israel, wenn die Gefahr besteht, dass sie völkerrechtswidrig eingesetzt werden.

• Unterstützen Sie die internationale Gerichtsbarkeit ohne Einschränkungen, um die jahrzehntelange Straflosigkeit zu beenden.

• Setzen Sie sich im Sinne des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs vom 19. Juli 2024 mit aller Kraft für ein Ende der illegalen Besatzung, des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus und der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland ein.

• Schützen Sie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland: Der Schutz vor Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus darf nicht gegen das Recht auf friedlichen Protest ausgespielt werden. Wir wollen mit der Veranstaltung einen Raum für friedlichen Protest schaffen, der frei ist von Diskriminierung und Gewalt. Rassistische, anti-palästinensische und/oder antisemitische Äußerungen oder Handlungen akzeptieren wir nicht.

Aufrufende Organisationen:

Amnesty International Deutschland • Arbeitskreis Palästina Brühl-Battir • Ärzte der Welt • Bielefelder Nahost-Initiative • Bundesweite Arbeitsgruppe Globalisierung und Krieg • Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern • CARE Deutschland • Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen • Deutsch-Palästinensischer Frauenverein • Deutsch-Palästinensische Gesellschaft • Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung • Forum Ziviler Friedensdienst • Frauen wagen Frieden • Freunde von Sabeel Deutschland • Humanistische Union • IALANA Deutschland – Vereinigung für Friedensrecht • INNA (Städtepartnerschaft Nablus/Nürnberg) • Internationale Liga für Menschenrechte • Internationaler Versöhnungsbund, Deutscher Zweig • Interventionistische Linke Berlin • IPPNW Deutschland • Israelisches Komitee gegen Hauszerstörungen • Israelis für Frieden • Kairos Palästina Solidaritätsnetz Deutschland • Komitee für Grundrechte und Demokratie • KURVE Wustrow – Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion • medico international • Netzwerk Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel in Deutschland • NRC Flüchtlingshilfe Deutschland • Palästina Initiative Region Hannover • Partnerschaftsverein Bonn-Ramallah • pax christi, Deutsche Sektion • Sea-Watch • Solidarität International • Terre des Hommes Deutschland • Weltfriedensdienst

Text B

Stellungnahme der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Jahrestag des 7. Oktobers

„Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“ Psalm 36,8

In Verantwortung vor Gott, dem Schöpfer, blicken wir auf das Leben aller Menschen unabhängig von deren Nationalität und Religion. Wir vertrauen darauf, dass für Gott alle Menschen seine Kinder sind. Aus diesem Glauben heraus blicken wir auf die Geschehnisse in Israel und Palästina und nehmen die Not wahr, die Menschen aus verschiedenen Völkern und unterschiedlichen Glaubens in furchtbarer Weise trifft. In geschwisterlicher Solidarität sind wir so auf Israelis und Palästinenser verwiesen.

Vor einem Jahr, am 7. Oktober 2023, überfielen Terroristen der Hamas aus dem Gazastreifen heraus mehrere Kibbuzim und ein Musikfestival in Israel, töteten etwa 1200 Menschen auf grausamste Weise und verschleppten über 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen. Einwohner*innen der betroffenen Orte wurden zu ihrer eigenen Sicherheit evakuiert. Israel wurde danach fortlaufend durch Raketen aus dem Gazastreifen und aus dem Südlibanon angegriffen. Das Gewaltpotential vor allem des Irans, der Hisbollah, der Hamas und der Huthi-Rebellen ist weiterhin eine Bedrohung für die Existenz des Staates Israel.

Die militärische Reaktion Israels führte im Gaza-Streifen zu Flucht, Zerstörung und Hunger. Zehntausende von Toten und Verletzten sind in diesem Krieg als Opfer zu verzeichnen. Häufig wird die Kriegsführung Israels dafür verantwortlich gemacht, dass bei den Angriffen Zivilist*innen nicht ausreichend geschützt werden. Jedoch muss auch auf die menschenverachtende Taktik der Hamas hingewiesen werden, die die eigene Bevölkerung als Schutzschild benutzt und deren Tod als Teil ihres Kalküls einplant. Ohnehin gilt es, die völkerrechtliche Asymmetrie zwischen dem anerkannten Staat Israel und der das Völkerrecht ignorierenden Terrorgruppe Hamas wahrzunehmen.

Sowohl die israelische als auch die palästinensische Gesellschaft sind schwer traumatisiert. Jede und jeder im Heiligen Land hat Freund*innen und Verwandte unter den Toten, Verletzten und Geflüchteten. Zur seelischen Not kommt die materielle Not, die vor allem die Palästinenser im Gazastreifen trifft, aber in einem hohen Maß auch die Palästinenser im Westjordanland und auch zunehmend israelische Familien bedroht. Palästinenser*innen im Westjordanland beklagen, dass radikale jüdische Siedler im Schatten des Krieges sich mit Gewalt Land aneignen und palästinensische Einwohner*innen bedrohen.

Der Terroranschlag am 7. Oktober und der darauffolgende Krieg haben Folgen für die Situation in Deutschland mit sich gebracht. Sowohl Jüdinnen und Juden als auch Menschen mit palästinensischen Wurzeln, die in Deutschland leben, trauern und bangen um Verwandte und Freund*innen im Nahen Osten. Jüdinnen und Juden erleben seit dem 7. Oktober einen enormen Anstieg von offenem Antisemitismus. Muslim*innen, unabhängig von ihrer familiären Herkunft, berichten davon, dass sie einem grundlegenden Misstrauensverdacht ausgesetzt sind. Interreligiöse Aktivitäten, an denen bisher christliche, jüdische und mulimische Gläubige beteiligt waren, wurden an vielen Orten wegen dieser Entwicklungen abgesagt oder befinden sich in einer Krise.

Angesichts der skizzierten Situation im Nahen Osten und in Deutschland erklärt die Evangelische Kirche von Westfalen (EKvW):

  • „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit.“ (1. Kor 12,26) – Die EKvW versichert den Kirchen im Heiligen Land – insbesondere der Evangelisch-Lutherische Kirche in Jordanien und dem Heiligen Land (ELCJHL) – ihre Verbundenheit. Auch wenn in Einzelfragen des Nahostkonfliktes die Sichtweisen verschieden sein mögen, eint uns der Auftrag, Gottes Liebe zu leben, Hoffnung weiterzutragen und für Gerechtigkeit mutig einzutreten. Die EKvW ist erschrocken, wenn Kirchen und kirchliche Einrichtungen angegriffen und zerstört werden, wenn Christ*innenvertrieben und getötet werden und wenn im Land der Bibel christliche Existenz zunehmend gefährdet wird. Sie betet für die Geschwister in Christus.
  • Die EKvW ist bestürzt darüber, dass die Waffen im Nahen Osten nicht schweigen. Sie spricht den Angehörigen der Opfer des palästinensischen Terroranschlags vom 7. Oktober 2023 ihr Beileid aus und bangt gemeinsam mit ihnen um die weiterhin in Gaza festgehaltenen Geiseln. Die EKvW beklagt die hohe Zahl an Toten im Gazastreifen und drückt ihren Angehörigen ihr Beileid aus. Die EKvW bekräftigt den Beschluss von Kirchenleitung und Synode im November 2017: „Wir halten es […] für unverzichtbar, den schwierigen Weg der Solidarität mit den leidenden Menschen aller beteiligten Konfliktparteien, Israelis wie Palästinensern, sowie Juden, Christen und Muslimen zu gehen.“ Sie verweigert sich Bestrebungen, die Komplexität des Israel-Palästina-Konflikts durch Vereinfachungen zugunsten der einen oder der anderen Seite aufzulösen.
  • Die EKvW ist sich bewusst, dass es keinen Königsweg zur Lösung des Konflikts gibt. Sie hält jedoch weiterhin an dem Grundsatz ihrer Erklärung von 2017 fest: „Frieden kann es in Israel und Palästina nur geben, wenn das Existenzrecht Israels genauso anerkannt wird wie das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat.“
  • Eine Regulierung des Konflikts als ersten Schritt hin zu einer Lösung ist nach Meinung der EKvW nur möglich, wenn es Möglichkeiten der Begegnung zwischen den beteiligten Konfliktparteien gibt. Die EKvW unterstützt daher – neben Notfallhilfen – Initiativen, die Begegnung und Kooperation jenseits festgefahrener Grenzen fördern und für Frieden und Gerechtigkeit sowie für die Einhaltung der Menschenrechte eintreten.
  • Die EKvW unterstützt alle politischen Bestrebungen, die in der jetzigen Situation für eine Befreiung der Geiseln und für eine Feuerpause als ersten Schritt hin zu einem Waffenstillstand eintreten. In besonderer historischer Verantwortung für das jüdische Leben in Deutschland tritt die EKvW für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden sowie jüdischer Einrichtungen in Deutschland ein. Sie wendet sich gegen antisemitische Einstellungen, Worte und Taten innerhalb ihrer Strukturen und innerhalb der deutschen Gesellschaft.
  • Die EKvW lehnt einen Generalverdacht gegenüber Muslim*innen und ihrer Organisationen ab und setzt sich angesichts radikalisierender Tendenzen gegen islamfeindliche Einstellungen, Worte und Taten ein.
  • Die EKvW unterstützt Bemühungen und Organisationen, die sich – sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch im Nahen Osten – dem Miteinander von Menschen unterschiedlicher Religionen, insbesondere von Jüdinnen*Juden, Christ*innen und Muslim*innen, verpflichtet haben.
  • Die EKvW weiß sich in ihrem Anliegen eins mit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), die auf ihrer 9. Vollversammlung in Sibiu (27. August bis 2. September 2024) dazu aufruft, „auf der Seite der Betroffenen von Terror, Gewalt und Unterdrückung“ zu stehen, „unabhängig davon, welcher Nation, Sprache oder Religion sie angehören“ (Aufruf „Interreligiöse Beziehungen im europäischen Raum im Kontext der gewaltsamen Konflikte im Nahen Osten“).
  • Die Kirchenleitung der EKvW bittet ihre Kirchenkreise und Gemeinden sowie ihre Ämter und Werke, die hier aufgeführten Standpunkte zu übernehmen, insbesondere die Position der doppelten Solidarität mit allen Leidenden im Israel-Palästina-Konflikt und mit allen, die für Begegnung und Versöhnung eintreten.

Link zum Offenen Brief von M. Jeub an die Verfasser der westfälischen Stellungnahme.