Avraham Burg, Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss

Buchbesprechung

Eine völlig verspätete Rezension zur rechten Zeit

Manchmal fügen sich Dinge ganz eigenartig. Ein Freund verschlankt seinen Bücherbestand. Wen interessiert das Thema Israel? Mich! So rette ich „Hitler besiegen“ von Avraham Burg, erschienen 2009, vor der grünen Tonne. Als ich zu lesen beginne, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit Paukenschlägen spricht das Buch in die aktuelle Situation hinein. Schon 15 Jahre, bevor eine Postkolonialismus-Debatte die deutsche Öffentlichkeit erregte, ist hier die Rede vom Holocaust im Plural, spricht ein jüdischer Israeli von der Schattenseite der Singularität.

Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich dem Holocaust stellen muss.

Wer in Gefahr steht, angesichts des monströsen Massenmords im Gazastreifen pauschale Vorurteile gegen Israel und die Israelis zu entwickeln, sollte unbedingt das Buch des gebürtigen Israeli Avraham Burg lesen. Er kam 1955 in Jerusalem zur Welt als Sohn von Yosef Burg, der in den 30er Jahren aus Deutschland emigriert war und in den ersten Regierungen des Staates Israel verschiedene Ministerämter bekleidete. Der Sohn ging dann ebenfalls in die Politik, war Berater von Schimon Peres, Abgeordneter, Direktor der Jewish Agency und von 1999 bis 2004 Präsident der Knesset.

Von daher hätte man kaum erwartet, in dem Buch auf Schritt und Tritt Aussagen zu begegnen, die im heutigen Deutschland sofort ein fürchterliches Geschrei auslösen, z. B. einer vernichtenden Kritik des Zionismus und der Beobachtung eines wachsenden antiarabischen Rassismus in Israel. Burgs Buch kombiniert autobiografische und zeitgeschichtliche Erzählung mit politischen, philosophischen und theologischen Reflexionen und macht die Lektüre leicht. Dem Leser werden innerisraelische Entwicklungen erschlossen, auf deren Hintergrund die Wandlung Burgs vom Fallschirmjägeroffizier zum Pazifisten nachvollziehbar wird.

Avraham Burgs Ethos ist ein in den besten Traditionen des Judentums gegründeter, weltoffener Humanismus. Sein Plädoyer auf religiösem Gebiet lautet, den jüdischen Partikularismus zu verlassen und sich für einen Universalismus zu öffnen, der interreligiös auf Augenhöhe mitredet und bei den Vereinten Nationen eine positive, ja, eine Vorreiterrolle spielt.  

Wann und wodurch kamen wir in Israel auf die schiefe, chauvinistische Bahn? – das ist Burgs verzweifelte Leitfrage in diesem Buch. Wie der Untertitel andeutet, macht er dafür eine falsche, von der Rechten angeheizte und instrumentalisierte toxische Erinnerungskultur verantwortlich, die aus dem Holocaust das Selbstbild des ewig bedrohten Volkes ableitet („Die ganze Welt ist gegen uns!“) und zu einem paranoiden, friedensunfähigen Sicherheitsdenken führt. Dagegen setzt er in der Tradition des alttestamentlichen Prophetentums eine universalistische Vision:

„Ich bin zutiefst überzeugt: Wenn Israel sich von seiner Besessenheit von der Shoah und ihrer Exklusivität befreit, wird auch die Welt freier sein. Israels Rolle wird darin bestehen, aufzupassen, Alarm zu schlagen und sich auf die Seite der Verfolgten zu stellen, wo sie auch sind, ohne Rücksicht auf Freund oder Feind. Das jüdische Volk wird die Verfolgten erkennen und die Weltöffentlichkeit und die politischen Kräfte mobilisieren, um Gräueltaten zu verhindern, bevor sie passieren. In Jerusalem, der Stadt des Friedens, wird ein Internationaler Strafgerichtshof für Verbrechen gegen die Menschheit eingerichtet werden, dessen Richter aus allen Nationen kommen. Er wird allen offen stehen, und über seinen Toren wird Isaias Prophezeiung eingemeißelt sein: Jes. 2, 2-4. 8 (…) Ich träume, dass der Internationale Strafgerichtshof für Verbrechen gegen die Menschheit auf dem Gelände der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem entsteht und ihren Charakter völlig verändert. Heute ist Yad Vashem das größte Monument nationaler Ohnmacht, ein Denkmal der moralischen Taub- und Stumpfheit gegenüber anderen, die seit Jahrzehnten in unserer kollektiven Seele herrscht. Die Holocaust- Gedenkstätte Yad Vashem ist der Pfahl, an den wir unsere Gäste stellen, um ihnen unsere exklusiven Shoah-Werte einzutrichtern. (…) In seiner zukünftigen Form wird das Museum jedoch eine Gedenkstätte allen menschlichen Unrechts sein. Es wird ein Ort sein, der die Potenz des Kampfes gegen Gewalt ausstrahlt, wo immer Gewalt herrscht. Es wird einen armenischen und einen serbischen Flügel haben, Exponate aus Ruanda und Namibia, eine Ausstellung zu Ehren der Ureinwohner Amerikas, die von blonden, blauäugigen Generälen vernichtet wurden. Aus der ganzen Welt werden Kinder nach Yad Vashem kommen, um etwas über die Prinzipien der Gewaltlosigkeit zu lernen.“  (S. 200 ff.)

Avraham Burgs Buch ging 2009 ein Wagnis ein, als der Autor die Verhältnisse in Israel mit dem Deutschland der Weimarer Republik verglich. Burg hat sich als hellsichtig erwiesen. Heute regieren in Israel Rechtsradikale.

„In den 1920er und 1930er Jahren forderten Mitglieder der deutschen Rechten die Strafverfolgung der »Novemberverbrecher«, wie sie die Führer der demokratischen Parteien nannten, die am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 die Waffenstillstandsverträge unterzeichnet und in ihren Augen Deutschland verraten hatten. In Israel verlangen sowohl die Rechtsextremen, die in den Hügeln der West Bank herumlungern, als auch die bürgerliche Rechte in Anzug und Krawatte die Strafverfolgung der »Oslo-Verbrecher«. So nennen sie die führenden israelischen Politiker, den ermordeten Ministerpräsidenten Rabin und den heutigen Staatspräsidenten Schimon Peres, die 1993 das Oslo-Abkommen unterzeichneten, sowie den größten Teil der israelischen Gesellschaft, die sie unterstützte und die erste Intifada beendete. Das muss als Aufruf verstanden werden, den gesamten demokratischen Prozess anzuklagen. Ist diese Parallele zwischen Deutschland und Israel rein zufällig? Unterscheiden sich Schmierereien wie »Araber raus« und »Transfer jetzt« an den Wänden von »Juden raus«? Was sagen uns die Knessetreden voller Hass, Angst und Unflätigkeiten, die aus dem Protokoll, nicht aber aus dem Bewusstsein gestrichen werden? Was bedeutet es, wenn ein Nachrichtensprecher sagt: »Ein Araber fand den Tod«? Dass er den Tod verloren hatte und IDF-Soldaten ihm halfen, ihn zu finden? Was heißt: »Soldaten feuerten in die Luft, und zwei Jungen wurden getötet?« Dass palästinensische Kinder durch die Luft fliegen wie Figuren in einem Gemälde von Marc Chagall und von unseren harmlosen Kugeln getroffen werden? Wem sind die Dutzende von Fällen unaufgeklärter Tötungen anzulasten, deren Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurden? Sie sind uns anzulasten, mir und dir.“ (S. 80f.)

An diese sprachsensiblen und schonungslos selbstkritischen Worte eines Israeli möchte ich abschließend die angewandte Lehre eines Deutschen im Dezember 2023 anschließen. Zurzeit lügen sich eine deutsche Politik, die ihr folgende Mainstreampresse und leider auch die evangelische Kirche die Wirklichkeit ähnlich zurecht, wie Burg es hier beschreibt. Der 7. Oktober wird wie ein historisches Datum fixiert, in Dauerschleife laufen die Gräueltaten der Hamas ausgemalt bis ins Voyeuristische, und ganz hintendran wird – nun schon über mehr als zwei Monate – das Dauerbombardement Israels auf den abgeriegelten Gazastreifen in die Worte gekleidet, dass es dort leider “zu einer humanitären Katastrophe gekommen” sei. In Stellungnahmen meiner Evangelischen Kirche ist genau dies Schema erkennbar. Wenn ich an Burgs Sarkasmus anknüpfen darf: Die Evangelische Kirche verurteilt wortreich die menschenverachtenden Massaker der Hamas und tut im Übrigen so, als habe es danach in Gaza eine Naturkatastrophe, ein Erdbeben gegeben. Sie traut sich einfach keinen Satz zu sagen, in dem der Staat Israel Satzsubjekt und die toten Kinder von Gaza das Objekt sind. Sie täuscht, sie verschweigt die Wirklichkeit – und sie erkennt nicht, dass es genau das Schweigen war, wodurch die Kirche in der Nazizeit schuldig wurde.

Das Buch hat Burg neben seiner Familie Hannah Arendt gewidmet. Dass sie im heutigen Deutschland wohl nicht mehr hätte reden dürfen, hat dieser Tage die amerikanische Jüdin Masha Gessen aus gegebenem Anlass gemutmaßt.   

Danke, Avraham Burg. Du hast mich klarer sehen gelehrt.

Manfred Jeub, Freiburg