Leiden im besetzten Westjordanland

Petition Offener Brief

Brief des FFE an den israelischen Botschafter in Deutschland, Herrn Ron Prosor

Im Schatten des Gaza-Krieges, der die Welt in Atem hält, erfährt die Öffentlichkeit bei uns wenig von den Vorgängen im von Israel besetzten Westjordanland. Dort hat es seit dem 9. Oktober 2023 480 palästinensische Todesopfer und rund 5.040 Verletzte gegeben, Tausende Palästinenser sind verhaftet worden, die Übergriffe durch Siedler eskalieren. Aber auch durch Zugangserschwerungen und behördliche Schikanen werden die Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten immer unerträglicher. Das FFE hat in Bezug auf einen konkreten Einzelfall, das bekannte „Tent of Nations“-Projekt, einen Brief an den israelischen Botschafter geschrieben.

Freiburg, den 16. Mai 2024

An den
Botschafter des Staates Israel
Herrn Ron Prosor
Auguste-Viktoria-Straße 74-76
14193 Berlin


Sehr geehrter Herr Botschafter Prosor,

als Mitglieder des Leitungskreises des Forums Friedensethik (FFE) in der Evangelischen Kirche in Baden (EKiBa) schreiben wir Sie an, weil wir uns ernsthafte Sorgen machen über die Zukunft des 42 ha umfassenden Weinbergs, des „Tent of Nations“, und der Menschen, die darin leben und arbeiten. Es handelt sich um eine Farm in der Westbank, ca. 7 km südwestlich von Bethlehem. Wir beobachten seit Jahren sorgenvoll, was dort vor sich geht. Und in diesen Tagen nimmt das Geschehen dort neue, beängstigende, die Lebensgrundlage der Familien Nassar bedrohende Dimensionen an. Das Leitmotiv der christlichen, uns verbundenen palästinensischen Familien in Daher Nassars Weinberg ist vielen bekannt. Es lautet „Wir weigern uns, Feinde zu sein!“

wirweigernuns web 600x418 1 Leiden im besetzten Westjordanland

Die Geschichte dieses Weinbergs ist die Geschichte eines gewaltfreien Einsatzes für Gerechtigkeit und für Versöhnung im Heiligen Land, ein Zeichen dafür, dass Frieden und Verständigung zwischen Palästinensern und Israelis möglich sind. Deshalb wehren sich die Nassars seit über 30 Jahren gewaltfrei, eben mit juristischen Mitteln, gegen die drohende Enteignung ihres Landes. Das ist vielen anderen palästinensischen Familien nicht möglich gewesen, weil sich der israelische Staat deren Land wegen fehlender dokumentarischer Nachweise einfach angeeignet hat. Wegen der vorausschauender Sorgfalt ihres Großvaters Daher Nassar konnte die Familie Nassar durch geeignete Unterlagen nachweisen, dass sie ihr Grundstück seit 1916 im historischen Verlauf osmanischer, britischer, jordanischer sowie israelischer Besatzung durchgehend offiziell bei den jeweiligen Behörden registriert hatte. Sie konnte somit ihren eigentumsrechtlich verbrieften Anspruch auf das Land beweisen. Mittlerweile ist der Weinberg, der zu den C-Gebieten (seit 1993) der Westbank zählt und daher unter uneingeschränkter Kontrolle israelischer Verwaltung und Polizeigewalt steht, von allen Seiten von israelischen Siedlungen umgeben. Von daher erklärt sich das Interesse, die territoriale Kontrolle auch über das Gebiet der Familie Nassar zu bekommen. Was dies konkret bedeutet hat die Familie Nassar seit nunmehr über 30 Jahren zu spüren bekommen: Immer wieder wurden Bauanträge für Gebäude, Brunnen oder Zisternen, selbst der Antrag zum Aufbau eines Zeltes, abgelehnt und in der Folge des „unerlaubten“ Bauens bis zum heutigen Tag Abrissbefehle für Bauten und Einrichtungen auf dem Grundstück ausgestellt. Vor etwa einem Jahr haben jüdische Siedler aus der Umgebung hunderte von Olivenbäumen auf dem Anwesen der Familie Nassar in einer brutalen Gewaltaktion abgebrannt.

Der nächste Termin einer weiteren Anhörung durch das zuständige israelische Gericht ist der 2. Juni 2024. Wohl deshalb bedürfen die folgenden Vorgänge, die sich im Weinberg derzeit abgespielt haben, besonderer Aufmerksamkeit. Diese neuesten Informationen haben wir erhalten aus einem Vortrag online am 10. Mai 2024 von Herrn Wolfgang Schmidt, dem Vorsitzenden des Jerusalemsvereins im Berliner Missionswerk.

Von 20. bis 25. April 2024 haben mit Herrn Schmidt fünf Vorstandsmitglieder des JerusalemsvereinsJerusalem und die Westbank besucht. Ihre Absicht war es, die augenblickliche Situation von Christen im Heiligen Land kennenzulernen und sie aus der geistlichen Gemeinschaft heraus zu stärken und zu ermutigen. Über diese Reise berichtete Wolfgang Schmidt (als Oberkirchenrat Mitglied der Kirchenleitung der EKiBa, von 2012 bis 2019 Probst an der Erlöserkirche in Jerusalem, jetzt zuständig für die Bildungsarbeit der Badischen Landeskirche in Schule und Gemeinde) in einem Vortrag mit dem Titel „Nach dem 7. Oktober: Christen im Raum Bethlehem“ unter anderem auch über die aktuelle Lage der palästinensischen Familien auf dem Weinberg:

In der Woche davor, also Anfang Mai 2024, seien bewaffnete Siedler in den Weinberg mit einer Planierraupe eingedrungen, um eine Straße mitten durch den Nassar’schen Weinberg zu bauen. Eine weitere Schikane habe es etwa zum selben Zeitpunkt gegeben, als der Strassenzugang zu den Gebäuden der Familie Nassar verbarrikadiert worden sei. So konnte die Besuchergruppe nur auf Umwegen zu Fuß auf das Gelände der Farm gelangen. Das alles habe maßloses Entsetzen bei der Familie ausgelöst. Zwar habe eine internationale Kraft aus den EAPPI-Beobachtern mit besonderem Kontakt zur Militärverwaltung die Fortsetzung des Strassenbaus quer durch den Weinberg für den Moment stoppen können. Von der Familie Nassar aber weiß niemand, wie das weitergehen wird. Offenbar sei man von Seiten der Militärbehörden dabei, weitere Schritte zu unternehmen, um den Fortbestand der Eigentumsverhältnisse der Familie Nassar aufzuheben und das Land unter die Kontrolle der Militärverwaltung zu bringen. Wolfgang Schmidt kam in der Gesamtbewertung der Lage der Christen im Raum Bethlehem in seinem Vortrag zu folgendem Ergebnis:
Der Solidaritätsbesuch vermittelte einen bedrückenden Eindruck von der momentanen Lage, unter der auch die Christen dort nach dem 7. Oktober 2023 leben: Der Tourismus ist zusammengebrochen, Erwerbstätigkeit für Palästinenser aus der Westbank in Israel ist unmöglich geworden, die Mobilität in der Westbank ist massiv eingeschränkt, Sicherheit für Leib und Leben ist nicht mehr garantiert. Die materielle und seelische Not ist groß.

Als FFE bejahen wir unsere Verantwortung für das Leben von Juden, die sich aus unserer Geschichte ergibt. Das gilt auch für die Existenzberechtigung des Staates Israel. Wir sehen eine solche Verantwortung aber auch für die Palästinenser. Die Lehre aus dem Holocaust für uns kann nur lauten: Eintreten für gleiche Menschenwürde und universelle Menschenrechte auch in der Westbank.Israel versteht sich bisher als demokratischer Staat. Nach unserem Verständnis gehört dazu auch der Einsatz für Rechtsstaatlichkeit. Damit ist in keiner Weise zu vereinbaren, was sich an Bedrohungen für Nassars Weinberg anbahnt.
Wir bitten Sie Herr Prosor, den israelischen Botschafter in Deutschland:

Sorgen Sie mit dafür, dass dieses Unrecht der Enteignung von unseren christlichen Geschwistern der Familie Nassar abgewendet wird. Sorgen Sie mit dafür, dass Belästigungen, Zerstörungen und Bedrohungen mit Waffen durch Siedler oder israelisches Militär aufhören.

Wir freuen uns, wenn Sie uns auf unser Schreiben eine Antwort geben werden, die uns davon überzeugen kann, dass der israelische Botschafter in Deutschland sich für ein rechtsstaatliches Vorgehen israelischer Staatsorgane in der palästinensischen Westbank einsetzt.

Mit freundlichen Grüßen
für den Leitungskreis des Form Friedensethik

Johannes Maier und Peter-Michael Kuhn

P.S.: Die Unterzeichneten sind zusätzlich engagiert als Leiter des Ökumenischen Gesprächskreises Frieden in der Evangelischen Paul-Gerhardt-Gemeinde Waldkirch-Kollnau (Maier) und Mitglied im Vorstand von Pax Christi der Erzdiözese Freiburg (Kuhn).
Dieses Schreiben werden wir auf der Homepage des FFE in der Evangelischen Kirche in Baden veröffentlichen, wie auch auf der Homepage von Pax Christi in der Erzdiözese Freiburg

Es geht in Form von Kopien an
– die Bischöfin der Evangelischen Kirche in Baden (EKiBa), Frau Dr. Heike Springhart und an Herrn Oberkirchenrat Wolfgang Schmidt (EKiBa) sowie an den Erzbischof Stefan Burger und den Diözesanrat der Erzdiözese Freiburg
– an den Antisemitismus-Beauftragten des Landes Baden-Württemberg Dr. M. Blume
– an den Jerusalemsverein des Berliner Missionswerkes z.H. von Herrn Wolfgang
  Schmidt
– an die zuständigen Stellen der EKD für den Themenbereich Israel-Palästina (Rat der EKD, Evangelische Mittelostkommission EMOK) – an die Bundestagsabgeordneten der zugehörigen Wahlkreise



ALS Pdf Herunterladen