„… zieh zuerst den Balken aus deinem Auge…“ (Matthäus 7,5)
Auch wir erklären uns solidarisch mit der Bevölkerung der Ukraine. Darum unterstützen wir die Forderung nach einem unmittelbaren Waffenstillstand, der das sinnlose Sterben von ukrainischen und russischen Menschen beendet. Wir unterstützen die Forderung an den russischen Präsidenten, seine Truppen zurückzuziehen, und somit das Seinige dazu zu tun, dass es zu ernsthaften Verhandlungen kommt über die Probleme, die zwischen Russland und der Ukraine, Russland und dem Westen anstehen. Die bestehenden Kanäle und Institutionen müssen genutzt werden für Verhandlungen, die alle Gewalthandlungen stoppen. Wir beklagen das Leid der Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen, und wollen nach Kräften dazu beitragen, dass ihnen Schutz und Hilfe auch in Deutschland zuteilwird. Wir solidarisieren uns auch mit der russischen Zivilgesellschaft, die unter großen persönlichen Opfern in einem repressiven staatlichen Umfeld ihren Protest gegen Russlands Krieg zum Ausdruck bringt. Besonders verbunden fühlen wir uns der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung. Zugleich haben wir durch die Erfahrungen, die wir in den vergangenen zwanzig Jahren in unserer Arbeit gemacht haben, noch einen weiteren Blick auf das Geschehen:
Unser Friedensengagement
Anlässlich des völkerrechtswidrigen Angriffes der NATO auf Serbien im Juni 1999 wurde das Forum Friedensethik (FFE) gegründet. Zum ersten Mal seit 1941 tauchten damals deutsche Kampfflugzeuge wieder am Himmel über Belgrad auf. Es kam zu massiven Opfern unter der serbischen Zivilbevölkerung und zur Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur. Wir haben den damit verbundenen Bruch des Völkerrechts und in der Folge die gewaltsame Änderung der Grenzen eines souveränen europäischen Staates verurteilt. Wir haben mit dazu beigetragen, dass die Lügen von Genozid und geplanter ethnischer Säuberung, mit denen die NATO den Kosovo-Krieg rechtfertigen wollte, bekannt wurden. Wir haben in den folgenden Jahren weiterhin unsere Stimme erhoben gegen die westlichen Rechtsbrüche und Verwüstungen in Afghanistan, im Irak, in Syrien und in Libyen und die teilweise sorgfältig orchestrierten Lügen, mit denen diese Angriffe gerechtfertigt werden sollten. Insbesondere haben wir die jahrzehntelange Missachtung des Völkerrechts und der Menschenrechte der Palästinenserinnen durch den Staat Israel beklagt und das Wegschauen des Westens kritisiert. Wir sehen den besonderen Ausdruck von Angst und Hybris der Macht, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu gebracht hat, einen Krieg gegen die Ukraine zu beginnen. Auch Putin hat das Völkerrecht missachtet, das schwerste Kriegsverbrechen begangen, nämlich einen Angriffskrieg eröffnet, und der brüchigen europäischen „Friedensordnung“ vielleicht den Rest gegeben. Es schmerzt uns besonders, weil wir, der Friedenslogik und der gemeinsamen Sicherheit verpflichtet, noch im vergangenen Herbst einen Studientag zum Thema „Neue Verständigung mit Russland“ durchgeführt hatten. Allerdings halten wir das kontextlose Beklagen des russischen Überfalls auf die Ukraine, welche die tatsächliche Geschichte des NATO-Russland Konflikts ausblendet, für desorientierend und gefährlich.
Dieser Krieg hat eine Vorgeschichte
George Kennan, US-amerikanischer Historiker und Diplomat war einer der ersten nachdrücklichen Warner vor einer Osterweiterung der NATO. Am 05.02.1997 schrieb er in einem Gastbeitrag für die New York Times, dass die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, „der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg (wäre). Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinungsbildung anheizen wird; dass sie negative Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben wird; und dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in die Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben wird, die uns entschieden missfallen werden. … Es ist natürlich bedauerlich, dass Russland mit einem solchen Schritt zu einer Zeit konfrontiert wird, in der sich seine Exekutivgewalt in einem Zustand hoher Unsicherheit und nahezu der Lähmung befindet. Und es ist doppelt bedauerlich, wenn man bedenkt, dass es für diesen Schritt überhaupt keine Notwendigkeit gibt. Warum sollten sich die Ost-West-Beziehungen bei all den hoffnungsvollen Möglichkeiten, die das Ende des Kalten Krieges hervorgebracht hat, auf die Frage konzentrieren, wer sich mit wem verbündet.“ Es wurde tatsächlich kein ernsthafter Versuch gemacht, das Versprechen umzusetzen, das sich Ost und West mit der Charta von Paris (1990) gegeben hatten, nämlich ein System ausgehandelter, gemeinsamer Sicherheit in Europa zu schaffen. Russische Stellen haben das immer wieder thematisiert. Wir erinnern besonders an das Angebot des russischen Präsidenten, gemeinsam einen einheitlichen Sicherheitsraum von „Lissabon bis Wladiwostok“ zu schaffen, in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag vorgetragen (2001); es wurde ihm applaudiert, aber es folgten keine aktiven Schritte in die von ihm dargelegte Richtung. Seine Warnungen, dann vorgetragen bei der Münchener Sicherheitskonferenz (2007), wurden mit Schweigen beantwortet. Stattdessen wurde unter Bruch von auf jeden Fall politisch bindenden Verspre-chen die NATO-Infrastruktur bis an die Grenze Russlands vorgeschoben. Gleichzeitig wurden von den USA wichtige Rüstungskontroll-Vereinbarungen gekündigt. Russland wurde allenfalls nachrangig zu westlichen geostrategischen Überlegungen und politischen Entscheidung eine begrenzte Mitwirkung im Rahmen westlicher politischer Strukturen eingeräumt (z.B. NATO-Russland Rat). Dass Russland sich „eingekreist“ fühlte, ist verständlich. Wir erinnern daran, dass die USA in den NATO-Staaten Polen und Rumänien ein Raketenabwehrsystem mit der dreisten Begründung aufstellen, sie dienten der Abwehr iranischer Raketen. In der aktuellen Diskussion erscheint die NATO als geschlossener Block. Es wird die transatlantische Einheit beschworen. Tatsächlich vertreten aber die Mitgliedsstaaten unterschiedliche Interessen, die in Spannung zu einander stehen; das gilt insbesondere für die USA und Europa. Die USA hatten seit dem Ende des Kalten Krieges nie ein Interesse an einer Annäherung Europas an Russland, die den wirtschaftlichen und politischen Einfluss der USA gemindert hätte. Diese unterschiedlichen Interessen dürften der Idee eines einheitlichen Sicherheitsraumes von Lissabon bis Wladiwostok von Anfang an im Wege gestanden haben. Wir halten es für unbedingt notwendig, diese Aspekte einzubeziehen, will man denn den gegenwärtigen Konflikt in seiner Entstehungsgeschichte verstehen, um ihn einer Lösung zuzuführen. Der „Tagesspiegel“ hat in einem Artikel vom 22.02. 2022 dankenswerterweise an die Thesen des einflussreichen amerikanischen Politikwissenschaftlers und Politikberaters Zbigniew Brzezinski erinnert, vorgetragen in seinem Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ (6. Aufl., 2002). Sie lesen sich wie ein Drehbuch amerikanischer und westlicher Russland-Politik der letzten Jahre. Brzezinski forderte, die USA müsse als einzige Supermacht ihr Potenzial nutzen, um eine globale Sicherheitsordnung zu schaffen. Dazu gehöre auch, jede Macht zu neutralisieren, die sie dabei ernsthaft behindern könnte. Auf dem „eurasischen Kontinent“ erscheint Russland als solch ein Gegner. Die Herauslösung der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich reduziere Russland zu einer ungefährlichen Regionalmacht. „Obama verhöhnt Russland als Regionalmacht“ konnte dann „Der Spiegel“ am 25.03.2014 titeln. Allzu verständlich, dass sich Russland immer mehr nach der „Brzezinski-Doktrin“ behandelt fühlte. Die Dinge wurden im öffentlichen Diskurs praktisch nicht thematisiert.
Wider das Freund-Feind-Denken
Mit großer Sorge haben wir stattdessen in den letzten Wochen beobachtet, wie die aus den Vorkriegssituationen unserer Geschichte bekannte Teilung der Welt in Gut und Böse unsere Medien beherrschte. Das bekannte Grundmuster der selbstge-rechten Überzeugung von der eigenen Unschuld an der eskalierenden Spannung und der Skrupellosigkeit des Anderen beherrschte das Bild. Zwar gab es ein breites politisches Spektrum einzelner Stimmen, darunter sogar hochrangige Militärs, die mahnten, die russischen Bedrohungsgefühle ernst zu nehmen und Sicherheitsinteressen, wie sie der Westen mit großer Selbstver-ständlichkeit überall auf der Welt reklamiert, zu respektieren. Sie wurden aber kaum wahrgenommen. Wir hoffen, dass diese Stimmen jetzt zu einer echten Wende in der westlichen Politik beitragen können. Wir nehmen einen Grundgedanken in der Erklärung des FFE-Leitungskreises zum Ukraine-Konflikt (2014) auf und stellen fest: Beide Seiten haben zur gegenwärtigen dramatischen Zuspitzung des geostrategischen Konfliktes beigetragen. Ost und West müssen jetzt nicht nur einen regionalen Krieg beenden, sondern sie müssen gleichzeitig einen Politikwechsel einleiten. Es ist unbedingt erforderlich, diese Kehrtwendung zu vollziehen. Wir verurteilen die atomare Drohung des russischen Präsidenten, wie jede Form von atomarer Drohung, hier also auch die der USA. Er hat allerdings so daran erinnert, was droht, wenn dieser Politikwechsel nicht gelingt. Putins Drohung zeigt uns darüber hinaus vor allem eins, nämlich dass wechselseitiges Drohen mit Atomwaffen hoch gefährlich ist. Eine abschreckende Wirkung kann ja nur erzielt werden, wenn mit dem Einsatz der Waffen auch wirklich gerechnet werden muss. Die Menschheit sitze in einem Boot, meinte Albert Einstein, nachdem die Atombombe die Bedingungen und Folgen des Kriegführens auf einmalige Weise verändert hatte. Jede Granate, die in diesem Boot abgefeuert wird, mit welchen noblen Begründungen auch immer, kann zum Untergang aller führen.
Vernunft der Bergpredigt
Uns ermutigt auch in der gegenwärtig scheinbar ausweglosen Situation die Bergpredigt mit ihrem Impuls, dem Bösen nicht mit Bösem zu widerstehen, das Leben und die Lebensmöglichkeiten auch noch des Feindes mit ihm gemeinsam zu sichern und den „Balken im eigenen Auge“ zu sehen. Unter den gegebenen Umständen wird deutlich, dass die Bergpredigt auch kompatibel ist mit der politischen Vernunft. Wir müssen der „Kriegspropaganda“ widerstehen, die jetzt massiv den politischen und geostrategischen Kontext des gegenwärtigen Konfliktes ausblendet. Hier sehen wir ein breites Aufgabenfeld für die Kirchen. Durch ihre Predigt und Bildungsarbeit sollten sie zur Versachlichung des öffentlichen Diskurses beitragen. Bei der Verhängung von Sanktionen sollte darauf geachtet werden, dass sie weder der russischen Zivilbevölkerung schaden noch in erster Linie ökonomische Interessen der USA bedienen (Export von Fracking Erdgas nach Europa). Sanktionen sollten die wirtschaftlichen Machteliten in Russland treffen, die mit ihrem Einfluss Präsident Putin zur Einstellung des Krieges und zu Verhandlungen bewegen könnten. Sanktionen sollten auf keinen Fall bestehende Beziehungen mit der Zivilgesellschaft – wie z.B. Städtepartnerschaften – gefährden! Solange wir Hoffnung auf die überlebensnotwendige Politikwende haben, werden wir weiter das Projekt „Sicherheit neu denken“ vorantreiben. In das Lamento über die „kaputtgesparte Bundeswehr“ können wir nicht einstimmen. Die massive Aufrüstung, die jetzt angekündigt wird, ist für uns ein Zeichen dessen, dass die problematische Politik der letzten Jahre fortgeführt werden soll. Signalisiert wird für uns keine „Zeitenwende“ im Sinne einer Hinkehr zu mehr Realitätssinn und Verantwortungsbereitschaft. Wir beklagen sie vielmehr als Zeichen einer nun offenen Anpassung an die gefährliche Konfrontations- und Hegemonialpolitik der USA, deren politische Klasse sich als Sieger im Kalten Krieg fühlt. Die horrenden Ausgaben für Militär und Rüstung verhindern den Umbau unserer Wirtschaft in eine Wirtschaft ohne fossile Energieträger und ohne soziale Verwerfungen. Die globale Herausforderung der drohenden Klima-Katastrophe erfordert die Zeitenwende von der Hegemonie zur Kooperation aller Menschen auf diesem Planeten. Der Krieg, der die Nahrungsmittelexporte aus Russland und der Ukraine blockiert, beeinflusst schon jetzt die Versorgungslage in Ländern des globalen Südens. Die Aufrüstungsspirale, die jetzt in Gang gesetzt werden soll, wird uns der Mittel berauben, die wir brauchen, um den Hunger in der Welt zu reduzieren. Es muss uns allen klarwerden: die Ressourcen der Menschheit reichen nicht für Schwerter und Pflugscharen. Wir haben Verständnis für die heutigen Politikerinnen, angesichts der selbstgemachten Schwierigkeiten der Vergangenheit, jetzt das Richtige zu tun. Von unserem demokratischen Recht, solche Entscheidungen zu kritisieren, machen wir hier dennoch Gebrauch.
Aufruf
Wir bitten unsere Mitglieder und alle, die unsere Sicht der Dinge teilen, um informierte Friedensgebete im Geiste der Bergpredigt. Wir hoffen, dass unsere Kirchenleitungen sich aufraffen, ein an der Bergpredigt orientiertes Wort zur Lage zu sagen, d.h. für eine Politik gemeinsamer Sicherheit von Ost und West einzutreten, d.h. den politisch Handelnden und ihren zivilgesellschaftlichen Unterstützern Mut zu machen, die überlebensnotwendige Kehrtwendung zu wagen. Wir bitten alle, ihre zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen, um auf unsere Regierung einzuwirken. Entsprechend werden wir unsererseits auch diese Erklärung der Bundesregierung bzw. den Bundestagsabgeordneten zur Kenntnis zu bringen.